Die christlichen Kirchen stehen mit ihrem Grundauftrag, das Evangelium zu verkündigen, in unserer heutigen säkularen, multireligiösen und pluralen Gesellschaft vor ganz anderen Aufgaben und Herausforderungen, als dies noch vor 50 Jahren der Fall war. Damals waren nahezu alle im Gebiet der Landeskirche lebenden Menschen Mitglied in einer der beiden großen christlichen Kirchen.
Das kirchliche Leben orientierte sich weitgehend an überkommenen Vorstellungen. Die Rollen von Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen, Ordinierten und Nichtordinierten, Frauen und Männern, Jungen und Alten waren klar verteilt. Etliche Bestimmungen der bisherigen Kirchenverfassung sind im Laufe der letzten Jahrzehnte von aktuellen Entwicklungen und von Regelungen in anderen Kirchengesetzen überholt worden. Diese Widersprüche galt es zu beseitigen, um der Verfassung wieder die Bedeutung zu geben, die ihr gebührt. Vieles konnte zudem kürzer und sprachlich ansprechender gestaltet werden. Inhaltlich bestand ein wesentlicher Auftrag an den Verfassungsausschuss darin, die Bestimmungen an unsere heutigen Vorstellungen eines vielfältigen und in die Gesellschaft hineinwirkenden Glaubenslebens anzupassen und Strukturen zu beschreiben, die sowohl den Bedürfnissen nach mehr regionaler, örtlicher und individueller Gestaltungsfreiheit entsprechen als auch den gemeinsamen Auftrag aller Formen kirchlichen Lebens zur Verkündigung des Evangeliums im Blick behalten. Die wesentlichen theologischen Grundlagen, die in unseren Strukturen zum Ausdruck kommen, sollten dabei anders als 1965 ausdrücklich in der Verfassung benannt werden.
Anders als vor 50 Jahren ist heute auch der Weg zu einer Verfassung für deren Qualität und Akzeptanz entscheidend: Vor dem Beschluss über die neue Verfassung gab es daher einen insgesamt dreieinhalb Jahre dauernden Diskussionsprozess, an dem sich alle Kirchenmitglieder und auch andere Interessierte beteiligen konnten. Über 7.000 Personen haben die Online-Plattform kirchenverfassung2020.de aufgerufen, und über 400 Stellungnahmen sind dort eingegangen. Mitglieder des Verfassungsausschusses haben in den Kirchenkreisen und Einrichtungen über 70 Vorträge gehalten und Einwände und Anregungen aufgenommen. Im Frühjahr 2018 haben schließlich 150 Personen aus allen Regionen und Ebenen der Landeskirche in Loccum die Ergebnisse des Stellungnahmeverfahrens miteinander diskutiert. Mit Expertinnen und Experten aus Universitäten, der EKD, der VELKD und anderen staatlichen und gesellschaftlichen Bereichen wurden Einzelfragen erörtert. Vertreterinnen und Vertretern der evangelischen Jugend und die Gleichstellungsbeauftragte wurden angehört und die Erfahrungen und Überlegungen anderer Landeskirchen ausgewertet.
So ist es nicht verwunderlich, dass wir nicht nur über Organisation, Strukturen und Verfahren unserer Landeskirche diskutiert haben. Wir haben uns im Rahmen des Verfassungsprozesses zugleich darüber verständigt, welches Bild einer zukunftsgewandten Kirche aus unserem „Grundgesetz“ hervorscheint:
1. evangelisch profiliert, ökumenisch verbunden und im religiösen Dialog
Die Präambel stellt unsere Landeskirche in den Raum der einen Kirche Jesu Christi. Sie hat dem Auftrag, das Evangelium zu verkündigen, in allen seinen Dimensionen zu dienen (Art. 1), sie arbeitet mit den Kirchen der Reformation in Deutschland und der Welt zusammen, stärkt die Ökumene, ist mit dem jüdischen Volk verbunden und pflegt den nötigenfalls auch kritischen Dialog mit anderen Religionen und Weltanschauungen (Art. 4). Die Mitgliedschaft in der Kirche und die daraus erwachsenden Rechte und Pflichten stehen ebenso wie alle Aufgaben und Dienste von Ehren- und Hauptamtlichen auf dem Fundament der Taufe und dem daraus erwachsenden Allgemeinen Priestertum (Art. 7-13). Deshalb tragen Kirchenvorstand und Pfarramt (Art. 22) in der Kirchengemeinde ebenso wie die Organe des Kirchenkreises (Art. 33) und der Landeskirche (Art. 44) gemeinsam die Verantwortung für die evangeliumsgemäße Verkündigung und die Ordnung der Kirche. Leitung geschieht auf allen Ebenen der Landeskirche in unaufgebbarer Einheit im Hören auf Gottes Wort und in der Bindung an das kirchliche Recht (Art. 6).
2. vielfältig, einladend und offen für neue Formen kirchlichen Lebens
Alle Menschen sind in ihrer Unterschiedlichkeit vor Gott von gleicher Würde (Art. 2). Die Landeskirche fördert und unterstützt vielfältige Formen des kirchlichen Lebens, damit sich unterschiedliche Zugänge zum Glauben öffnen können (Art. 3). Ausgehend von der Ortsgemeinde, die für viele der vertraute Ort kirchlichen Lebens ist und bleibt, können sich andere dauerhafte Gemeindeformen (z.B. Personalgemeinden an Hochschulen oder in diakonischen Einrichtungen) oder nicht rechtlich verfasste Formen von Kirche an anderen Orten oder „auf dem Weg“ bilden (z.B. Urlauberkirchen, Gemeinschaften an Pilgerorten, in Klöstern und Kommunitäten, Gospel-, Jugend- oder Literaturkirchen oder virtuelle Gemeinschaften). Diese Formen bieten speziellen Bedürfnissen und Lebensumständen einen Ort und können gleichsam als „Versuchslabor“ wirken. Auf diese Weise sind alle Menschen, auch Ausgetretene und nicht Getaufte, eingeladen, das Evangelium zu hören und kirchliche Gemeinschaft zu erleben (Art. 9, 10). Die Mitarbeit und Beteiligung junger Menschen in kirchlichen Gremien, namentlich den Kirchenvorständen und Synoden, Lwird ausdrücklich angestrebt (Art. 9, 35, 46). In diesem Verständnis ist unsere Landeskirche eine moderne missionarische Volkskirche, die zur Mitgestaltung einlädt und vielfältige Glaubensformen als Bereicherung und nicht als Bedrohung der eigenen Frömmigkeitsform empfindet.
3. diakonisch und gesellschaftliche Verantwortung übernehmend
Die Diakonie wird ausdrücklich als Dimension der Verkündigung benannt (Art. 1). Die zum Diakonischen Werk gehörenden Einrichtungen werden als Formen kirchlichen Lebens anerkannt, und ihr Dienst für die Gesellschaft wird hervorgehoben (Art. 5 Abs. 4, 18, 62). Auch über den interkonfessionellen und interreligiösen Horizont hinaus bestimmt die Landeskirche in ihrer Verfassung ihre Rolle in Staat und Gesellschaft und ihren Öffentlichkeitsauftrag. Erstmals enthält eine Kirchenverfassung ein Bekenntnis zum demokratischen und sozialen Rechtsstaat des Grundgesetzes als einer staatlichen Ordnung, die sich den christlichen Werten von Menschenwürde und Menschenrechten, Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung in einer offenen und solidarischen Gesellschaft verpflichtet sieht (Art. 5).
4. Gemeinsam unterwegs
Die Art. 19 bis 86 regeln im Einzelnen die Strukturen und Abläufe der Landeskirche, ausgehend von den Kirchengemeinden über die Kirchenkreise und die landeskirchliche Ebene. Die Leitungsstruktur der Landeskirche wird durch die Abschaffung des Kirchensenats gestrafft, und die Stellung der Landessynode wird gestärkt. Die Regelungen über die Kirchengemeinden, ihre regionale Zusammenarbeit und über den Kirchenkreis zeichnen im Wesentlichen die Änderungen nach, die insbesondere das Finanzausgleichsgesetz und das Regionalgesetz in den letzten 20 Jahren bewirkt haben. Auch Art. 77 greift auf Erfahrungen der letzten Jahrzehnte zurück und öffnet einen ausdrücklichen Weg zur Erprobung neuer Strukturen. Neu sind die Aussagen über das Verhältnis zwischen den kirchlichen Handlungsebenen. Die Art. 14 Abs. 3, 31 und 43 beschreiben Subsidiarität und Solidarität als die grundlegenden Prinzipien für die Gestaltung dieses Verhältnisses. Grundsätzlich besteht also eine klare Präferenz für eine möglichst ortsnahe Aufgabenerledigung. Die nächste Ebene ist dann zuständig, wenn Aufgaben wegen ihres Umfangs und ihrer Wirkung nicht hinreichend erfüllt werden können und daher besser in der Gemeinschaft des Kirchenkreises bzw. der Landeskirche wahrgenommen werden können. Als Folge des Subsidiaritätsprinzips sieht Art. 18 eine Beteiligung der Kirchengemeinden bzw. der Kirchenkreise vor, wenn sie von Entscheidungen der nächsthöheren Ebene in besonderer Weise betroffen sind. Art. 4 Abs. 3 fasst mit dem Begriff der Zeugnis- und Dienstgemeinschaft zusammen, was die Arbeit aller Menschen, Gliederungen und Ebenen in unserer Landeskirche prägt: Sie sind in arbeitsteiliger Gemeinschaft und gegenseitiger Verantwortung gemeinsam unterwegs, um den einen Auftrag unserer Kirche zu erfüllen. Liebe Leserinnen und Leser, mit diesem roten Faden durch den Verfassungsprozess und einige wichtige Grundgedanken unserer neuen Kirchenverfassung wünsche ich Ihnen eine gewinnbringende Lektüre des nachfolgenden Verfassungstextes.
Ich danke Ihnen von Herzen für Ihr Engagement für unsere Landeskirche.
Präsidentin des Landeskirchenamtes der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers
Dr. Stephanie Springer