Erläuterungen zu Artikel 5
Mit Artikel 5 wird erstmals in einer evangelischen Kirchenverfassung das Verhältnis der Kirche zu Staat und Gesellschaft beschrieben. Mit dieser Bestimmung wird eines der wichtigen Ziele der Verfassungsrevision aufgenommen, ein positives und offenes Verhältnis zum Staat und zur Gesellschaft zu formulieren und die öffentliche Rolle der Kirche in der Gesellschaft im Rahmen ihres Auftrages grundlegend zu bestimmen. Auch hier weitet die Verfassung den Blick über den innerkirchlichen Bereich hinaus, wie es auch in anderen neuen Bestimmungen erkennbar ist, etwa in Aussagen zum Verhältnis zu anderen Religionen und Weltanschauungen (Artikel 4) oder zu Nicht-Kirchenmitgliedern (Artikel 2 und Artikel 10).
Artikel 5 reagiert auf zwei unterschiedliche Herausforderungen, vor denen unsere Kirche steht. Zum einen bejaht Artikel 5 den demokratischen und sozialen Rechtsstaat und setzt sich aktiv für seinen Erhalt und Schutz ein. Zum anderen verhält sich Artikel 5 dazu, dass die Gesellschaft säkularer und pluraler wird und diese Entwicklung mit Kritik an vermeintlichen „Privilegien“ der großen Kirchen einhergeht. Unter diesen Bedingungen ist es wichtig, die Voraussetzungen für das dem GG innewohnende „wohlwollende Kooperationsverhältnis“ zwischen Staat und allen Religionsgemeinschaften auch von Seiten der hannoverschen Landeskirche bewusst in der Verfassung zu verankern. Damit wird eine Verbindung hergestellt zum verfassungsrechtlichen Schutz der individuellen und korporativen Religionsfreiheit in Artikel 4 und Artikel 140 des GG in Verbindung mit Artikel 137 der Weimarer Reichsverfassung (WRV) sowie zum Staatskirchenvertrag zwischen dem Land Niedersachsen und den evangelischen Kirchen in Niedersachsen aus dem Jahre 1955, dem sogenannten „Loccumer Vertrag“.
Den Kirchen und Religions- bzw. Weltanschauungsgemeinschaften wird im Interesse der Gesellschaft vom GG eine große Freiheit ihrer Bekenntnisausübung gewährt. Diese positive Grundhaltung der staatlichen Verfassung zur öffentlichen Religionsausübung beruht auf der Annahme, dass die individuelle und kollektive Ausübung einer Religion oder Weltanschauung positive Auswirkungen auf das gesamte Gemeinwesen entfaltet und die gesellschaftliche und staatliche Werteordnung prägt. Auf der anderen Seite erfordert dies aber auch, dass die Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften die freiheitlich-demokratische Grundordnung anerkennen. Dies ist jedenfalls unabdingbare Voraussetzung für die Anerkennung einer Religions- und Weltanschauungsgemeinschaft als öffentlich-rechtliche Körperschaft. Von anderen bzw. neu sich in Deutschland etablierenden Religionsgemeinschaften wird diese Anerkennung vonseiten des Staates zu Recht erwartet. Daher ist es angebracht, in Artikel 5 ausdrücklich festzustellen, dass auch die Landeskirche diese Anerkennung ihrem Handeln zugrunde legt, solange die staatliche Ordnung die genannten Voraussetzungen im Blick auf Trennung von Kirche und Staat und die Gewährleistung von Religionsfreiheit sowie Selbstbestimmungsrecht der Kirche erfüllt.
Die grundsätzliche Anerkennung einer staatlichen Ordnung als Voraussetzung für ein friedliches und gerechtes Miteinander in einer Gesellschaft unterscheidet sich von dem, was Protestanten in früheren Jahrhunderten unter Luthers Auffassung vom Gehorsam gegenüber jedweder weltlicher Obrigkeit verstanden haben. Die Bedeutung dieser Unterscheidung wurde im Stellungnahmeverfahren besonders hervorgehoben. Die Benennung der theologischen Anforderungen an ein gelingendes Zusammenleben am Anfang der Vorschrift und die Formulierungen „anerkennt“ in Absatz 1 Satz 2 sowie „einer solchen Ordnung entspricht“ in Satz 2 machen deutlich, dass es gerade nicht um einen bedingungslosen Gehorsam der Kirche gegenüber irgendeiner aktuellen Staatsform und ihren Akteuren gehen kann. Insoweit nimmt Artikel 5 die V. These der Barmer Theologischen Erklärung auf und formuliert gleichzeitig die Anforderungen an einen dem Recht und der Gerechtigkeit verpflichteten Staat.
Die V. These der Barmer Theologischen Erklärung bildet auch die innere Grundlage der Demokratiedenkschrift der EKD „Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe“ von 1985 (S. 13), auf die Artikel 5 inhaltlich Bezug nimmt. Mit dieser Denkschrift würdigt die EKD erstmals die Staatsform der liberalen Demokratie. Die Denkschrift formuliert: „Als evangelische Christen stimmen wir der Demokratie als einer Verfassungsform zu, die die unantastbare Würde der Person als Grundlage anerkennt und achtet. Den demokratischen Staat begreifen wir als Angebot und Aufgabe für die politische Verantwortung aller Bürger und so auch für evangelische Christen. In der Demokratie haben sie den von Gott dem Staat gegebenen Auftrag wahrzunehmen und zu gestalten.“ (S. 12).
Dies aufgreifend beschreibt Absatz 1 das Verhältnis von Kirche und Staat und schafft damit zugleich eine kirchenrechtliche Verbindung zum verfassungsrechtlichen Staatskirchenrecht. Absatz 2 beschreibt den Öffentlichkeitsauftrag der Kirche und ihrer Mitglieder in der Verantwortung für alle Menschen und für das staatliche Gemeinwesen. Absatz 3 nimmt schließlich Bezug auf die insbesondere im Loccumer Vertrag geregelten sog. „gemeinsamen Angelegenheiten von Kirche und Staat“.