Artikel 19 | Ortsgemeinde und Personalgemeinde

(1) 1Die Kirchengemeinde nimmt als rechtlich verfasste Gemeinschaft von Mitgliedern der Kirche den Auftrag der Kirche in ihrem Bereich in eigener Verantwortung wahr. 2Sie wendet sich in Wort und Tat allen Menschen zu. 3Sie kann als Ortsgemeinde, aber auch als Personalgemeinde gebildet werden.

(2) Die Ortsgemeinde ist der Zusammenschluss von Mitgliedern der Kirche in einem räumlich bestimmten Bereich.

(3) 1Der Personalgemeinde ordnen sich Mitglieder der Kirche nach anderen Kriterien als dem Wohnort zu, insbesondere nach geistlichem Profil, nach besonderen lebensweltlichen Bezügen oder in Anbindung an eine diakonische oder andere Einrichtung. 2Sie kann gebildet werden, wenn aufgrund der Zahl ihrer Mitglieder und der Gestaltung ihrer Arbeit auf Dauer ein eigenständiges Gemeindeleben zu erwarten ist. 3Für die Personalgemeinde können durch Kirchengesetz Regelungen getroffen werden, die von den Artikeln 22 bis 29 abweichen.

Erläuterungen zu Artikel 19

Artikel 19 enthält die Grundbestimmung über den Auftrag und die verschiedenen Formen der Kirchengemeinde. Die Formulierungen lehnen sich an Artikel 21 Absatz 2 der Verfassung der EKM an und stellen anders als Artikel 23 der bisherigen Verfassung heraus, dass jede Kirchengemeinde ihre Aufgaben in ihrem Bereich eigenverantwortlich wahrnimmt (Absatz 1 Satz 2). Damit knüpft Artikel 19 an die allgemeinen Aussagen über das Selbstbestimmungsrecht kirchlicher Körperschaften in Artikel 14 Absatz 2 an. Die Kirchengemeinde ist also nicht eine „Filiale“ der Gesamtkirche, sondern eine eigenständige Körperschaft mit eigener Gestaltungsfreiheit und -verantwortung. Dabei ist sie allerdings an das kirchliche Recht sowie an die Vorgaben der Landeskirche und des Kirchenkreises gebunden und auf die Zeugnis- und Dienstgemeinschaft aller Formen kirchlichen Lebens (Artikel 3 Absatz 4) angewiesen. Die Formulierung „in ihrem Bereich“ kann sich dabei sowohl auf einen regionalen (Ortsgemeinde) wie auf einen inhaltlich bzw. personal (Personalgemeinde) bestimmten Bereich beziehen.

Artikel 19 greift auf Artikel 3 zurück und stellt klar, dass die Kirchengemeinde Teil einer Vielfalt der Formen kirchlichen und gemeindlichen Lebens ist, die unterschiedliche Zugänge zum Glauben eröffnet (Artikel 3 Absatz 1). Absatz 1 Satz 1 definiert die Kirchengemeinde in diesem Zusammenhang als eine der Formen, in denen kirchliches Leben rechtliche Gestalt gewinnt (Artikel 3 Absatz 2).

Absatz 1 Satz 3 betont den Öffentlichkeitsauftrag der Kirchengemeinde. Gemäß dem Auftrag des Evangeliums wendet sich die Kirchengemeinde allen Menschen in ihrem Bereich zu, nicht nur ihren Mitgliedern. Dahinter steht die Sendung durch Jesus Christus „in die Welt“, wie sie auch Artikel 10 mit seinen Aussagen über die „Einladende Kirche“ zugrunde liegt. Generell stehen gemeindliche und diakonische Angebote der Kirchengemeinde allen Menschen offen. Alle Menschen sind zum Glauben und ggf. zur Taufe eingeladen. Nicht ausgeschlossen ist mit diesem Satz, dass bestimmte Angebote an die Taufe bzw. die Mitgliedschaft in der Landeskirche gebunden sind. Das gilt etwa für die Möglichkeit der Patenschaft, kirchlicher Amtshandlungen oder des aktiven und passiven Wahlrechts.

Wie schon die bisherige Verfassung (Artikel 23) stellt Absatz 1 Satz 4 klar, dass die Kirchengemeinde als Orts- oder Personalgemeinde gebildet werden kann. Anders als im ersten Entwurf wird durch die neue Formulierung „kann als Ortsgemeinde, aber auch als Personalgemeinde gebildet werden“ der Tatsache Rechnung getragen, dass die Ortsgemeinde nach wie vor den Regelfall in der Landeskirche darstellt. Die neue Formulierung geht auf die ausführliche Diskussion bei der Auswertungstagung in Loccum in den beiden hierzu gebildeten Workshops zurück. Danach sollte keine Abstufung im Sinne einer Bedeutungsrangfolge oder eines Regel-Ausnahme-Verhältnisses zwischen den beiden Gemeindeformen zum Ausdruck gebracht, wohl aber der tatsächlichen Häufigkeit Rechnung getragen werden. Wenn beide Errichtungsmöglichkeiten weiterhin bewusst als gleichberechtigt aufgeführt werden, entspricht das dem Ziel der Verfassung, durch eine Förderung der Vielfalt in den Formen kirchlichen Lebens unterschiedliche Zugänge zum Glauben zu eröffnen. Auch andere neuere Kirchenverfassungen gehen in diese Richtung, etwa Artikel 21 Absatz 1 der EKM oder Artikel 21 der Nordkirche. Zur intensiven Diskussion dieser Frage im Stellungnahmeverfahren siehe die Begründung zu Artikel 3.

Absatz 2 und Absatz 3 beschreiben die unterschiedlichen Profile von Orts- und Personalgemeinde. Die Ortsgemeinde, die nach wie vor den Regelfall darstellt, wird durch den Wohnsitz bestimmt. Mit dem Wohnsitz ist für lutherische Kirchenmitglieder an einem Ort im Bereich der Landeskirche automatisch die Mitgliedschaft in einer bestimmten Kirchengemeinde verbunden, sofern nicht die Mitgliedschaft in einer anderen Kirchengemeinde gemäß Artikel 7 Absatz 3 gewählt wird. Da die Mitgliedschaft in der Ortsgemeinde in der Regel nicht durch bewusste Wahl entsteht, ist der Ausdruck „Zusammenschluss“ gewählt.

Durch die Möglichkeit der Umpfarrung in eine andere Parochialgemeinde, die auch aus inhaltlichen Gründen – etwa wegen eines besonderen geistlichen Profils – erfolgen kann, sind die Grenzen zwischen Orts- und Personalgemeinde fließend. Die Basis einer Ortsgemeinde mit besonderem Profil bleibt jedoch immer noch das Parochialprinzip, auch wenn sie zusätzlich Züge einer Personalgemeinde annimmt.

Rechtlich verfasste Personalgemeinden, die unabhängig vom Wohnortprinzip sind, gibt es bisher noch relativ selten. Sie könnten in Zukunft aber an Bedeutung gewinnen. Die Verfassung bietet dafür jetzt eine gleichberechtigte Öffnung an. Als Beispiele werden Kirchengemeinden mit einem besonderen geistlichen Profil genannt, z. B. mit einer besonderen missionarischen oder spirituellen Ausrichtung. Auch Landeskirchliche Gemeinschaften könnten – sofern dies von den Gemeinschaftsverbänden gewünscht wird – in Zukunft den Charakter von Personalgemeinden erhalten. Unabhängig davon sind die Landeskirchlichen Gemeinschaften jetzt in Artikel 64 ausdrücklich genannt. Möglich ist die Bildung einer Personalgemeinde darüber hinaus nach bestimmten lebensweltlichen Bezügen, etwa bei einer Hochschulgemeinde, aber auch bei einer Gemeinde besonders unter Migrantinnen und Migranten. Einen Sonderfall solcher lebensweltlichen Bezüge bilden Kirchengemeinden, die „an eine diakonische oder andere Einrichtung“ angebunden sind. Denkbar sind also z. B. auch Kirchengemeinden, die an ein Kloster oder an eine kirchliche Bildungseinrichtung angebunden sind. Dieses Kriterium eröffnet darüber hinaus den bisherigen Anstaltsgemeinden (dieser Ausdruck entfällt) die Möglichkeit, sich als Personalgemeinden zu konstituieren und den Kreis ihrer Mitglieder z. B. um Freunde und Förderer der Einrichtung oder im Rahmen einer Quartiersentwicklung um Kirchenmitglieder in der räumlichen Umgebung einer Einrichtung zu erweitern. Ob der kirchliche Dienst an einer diakonischen Einrichtung die Form einer Personalgemeinde haben soll oder nicht, kann durch die dort Verantwortlichen entschieden werden.

Wegen des besonderen Profils einer Personalgemeinde können Abweichungen von der normalen Organstruktur einer Kirchengemeinde erforderlich werden, die sich am Regelfall der Ortsgemeinde orientiert. Absatz 3 Satz 3 eröffnet die Möglichkeit, im Rahmen der KGO oder eines anderen Kirchengesetzes entsprechende Regelungen zu treffen. Dort ließen sich dann auch Fragen der Finanzierung, der Aufsicht und der weiteren Einbindung in die kirchlichen Strukturen regeln.

Im Stellungnahmeverfahren ist über die generelle Diskussion einer Öffnung der Begriffe „Gemeinde“ bzw. „Formen kirchlichen Lebens“ hinaus (s. dazu Artikel 3) immer wieder nach Kriterien und Konsequenzen der Bildung von Personalgemeinden gefragt worden, etwa nach rechtlichen Regelungen, nach der Aufsicht, insbesondere auch nach der Finanzierung und nach sich möglicherweise daraus ergebenden Konkurrenzen zur Ortsgemeinde. Der Verfassungsausschuss sieht aber bewusst davon ab, solche weitergehenden Regelungen vorzuschlagen. Artikel 3 und 19 wollen die Tür für Entwicklungen in der Zukunft öffnen. Diese Entwicklungen sind dann zu gegebener Zeit entsprechend auszugestalten. Das gilt für nähere, auf einfachgesetzlicher Ebene zu regelnde rechtliche Fragen ebenso wie für die Frage der Ressourcen. Aufgrund der Hinweise im Stellungnahmeverfahren erschien es aber sinnvoll, die wichtigsten Voraussetzungen für die Bildung einer Personalgemeinde auch in der Verfassung zu benennen. Die Formulierung „wenn aufgrund der Zahl ihrer Mitglieder und der Gestaltung ihrer Arbeit auf Dauer ein eigenständiges Gemeindeleben zu erwarten ist“ lehnt sich an Artikel 137 Absatz 5 der WRV an, wo die Voraussetzungen für die Anerkennung einer Religionsgemeinschaft als öffentlich-rechtliche Körperschaft benannt werden. In Analogie dazu wird klargestellt, dass eine Gemeinschaft als rechtlich verfasste Kirchengemeinde anerkannt werden kann, wenn es sich nicht nur um eine kurzfristige oder kleine Ansammlung von Menschen oder um die Sammlung um eine charismatische Persönlichkeit herum handelt, sondern wenn durch die zeitliche Perspektive etwa über eine Generation hinweg, die Zahl der Mitglieder und die konzeptionelle Ausrichtung der Arbeit eine dauerhafte Existenz als Kirchengemeinde sinnvoll erwartet werden kann. Als Vorbild wurde auch § 6 Absatz 1 der KGO der Nordkirche mit herangezogen.