Artikel 31 | Auftrag des Kirchenkreises

(1) 1Der Kirchenkreis ist die Gemeinschaft der Kirchengemeinden und der anderen Formen kirchlichen Lebens in seinem Bereich. 2Er nimmt den Auftrag der Kirche in seinem Bereich in eigener Verantwortung wahr. 3Er ermöglicht Erfahrungen von größerer Gemeinschaft und Vielfalt kirchlichen Lebens.

(2) 1Der Kirchenkreis fördert und unterstützt die Arbeit der Kirchengemeinden und der anderen Formen kirchlichen Lebens und ihre Zusammenarbeit. 2Er nimmt selbst Aufgaben wahr, die wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkung von den einzelnen Kirchengemeinden oder im Rahmen ihrer regionalen Zusammenarbeit nicht hinreichend erfüllt und daher besser in der Gemeinschaft des Kirchenkreises wahrgenommen werden können.

(3) 1Der Kirchenkreis sorgt für einen Ausgleich der Kräfte und Lasten zwischen den Kirchengemeinden. 2Er gibt mit seiner Finanzplanung den Rahmen für ihre Haushaltsführung und Vermögensverwaltung vor. 3Er entscheidet im Rahmen seiner Stellenplanung und der landeskirchlichen Planungsvorgaben über die Errichtung, Aufhebung, Ausweitung oder Reduzierung von Pfarrstellen sowie von Stellen für beruflich Mitarbeitende.

(4) Der Kirchenkreis nimmt gemäß Artikel 15 Leitungsaufgaben gegenüber den Kirchengemeinden und ihren Verbänden wahr.

(5) Der Kirchenkreis vermittelt Anliegen und Informationen zwischen der Landeskirche und den Kirchengemeinden.

Erläuterungen zu Artikel 31

Artikel 31 beschreibt den Auftrag des Kirchenkreises und seine verschiedenen Funktionen. Gegenüber Artikel 50 der bisherigen Verfassung hat sich der Inhalt der Bestimmung deutlich verändert. Diese Veränderung trägt dem Umstand Rechnung, dass die Kirchenkreise – ähnlich wie in anderen Landeskirchen – vor allem in den letzten zwei Jahrzehnten sowohl gegenüber den Kirchengemeinden als auch gegenüber der Landeskirche an Gewicht gewonnen haben. Die Kirchenkreise sind heute nicht nur als Zusammenschluss der Kirchengemeinden ihres Bereiches und als Verwaltungs- und Aufsichtsebene anzusehen, sondern als eine kirchliche Handlungs- und Gestaltungsebene, auf der eigenständige kirchliche Aufgaben wahrgenommen werden und die deswegen eine eigenständige Gestalt von Kirche darstellt. Die Kirchenkreise haben einerseits Aufgaben übernommen, die ursprünglich die Landeskirche wahrgenommen hat. Denn die Landeskirche als Ganze kann nur auf diese Weise angemessen auf unterschiedliche Entwicklungen in Niedersachsen und die daraus resultierenden unterschiedlichen Herausforderungen reagieren. Andererseits machen es gerade diese Herausforderungen erforderlich, dass die Kirchenkreise das Handeln der Kirchengemeinden unter Beachtung ihres Selbstbestimmungsrechts durch Steuerungsentscheidungen stärker in einen Rahmen gemeinsamer Verantwortung einfügen und darüber hinaus unter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips bestimmte Aufgaben selbst wahrnehmen.

Die Veränderung in der Beschreibung des Kirchenkreises war eines der wichtigsten Themen im Stellungnahmeverfahren. Es gab eine Vielzahl sowohl zustimmender als auch ablehnender Voten. Aus den im Aktenstück unter Punkt V. 5. genannten Gründen hat sich der Verfassungsausschuss entschieden, an der Beschreibung der seit langem gewachsenen Bedeutung des Kirchenkreises festzuhalten. Als Reaktion auf die im Stellungnahmeverfahren gegebenen Rückmeldungen wird jetzt aber zum einen in Artikel 31 Absatz 1 der ekklesiologische Charakter des Kirchenkreises deutlicher beschrieben, und zum anderen wird in Artikel 14 Absatz 3 eine Grundsatzbestimmung zu den Prinzipien der Subsidiarität und der Solidarität eingefügt.

Absatz 1 bringt das veränderte Verständnis des Kirchenkreises zum Ausdruck. Satz 1 spricht – in Anknüpfung an den Gedanken der Zeugnis- und Dienstgemeinschaft aller Formen kirchlichen Lebens (Artikel 3 Absatz 4) – vom Kirchenkreis als der Gemeinschaft und nicht nur als dem Zusammenschluss der Kirchengemeinden und der anderen Formen kirchlichen Lebens. Die gegenüber dem ersten Entwurf veränderte Formulierung geht auf Anregungen im Rahmen des Stellungnahmeverfahrens zurück. Sie knüpft an Artikel 3 Absatz 1 an. Die im ersten Entwurf ausdrücklich erwähnten Verbände von Kirchengemeinden (Kirchengemeindeverbände und Gesamtkirchengemeinden) und die Einrichtungen des Kirchenkreises (z. B. Familienzentren oder diakonische Beratungseinrichtungen) sind mit von dem Begriff „Formen kirchlichen Lebens“ erfasst.

Satz 2 stellt – in bewusster Parallele zu Artikel 19 Absatz 1 über die Kirchengemeinde und zu Artikel 43 Absatz 1 über die Landeskirche – klar, dass der Kirchenkreis eigenständige und nicht nur von anderen Handlungsebenen abgeleitete kirchliche Aufgaben wahrnimmt.

Satz 3 gibt einen Hinweis auf den besonderen ekklesiologischen Charakter des Kirchenkreises. Die Formulierung, die den eine einzelne Gemeinde bzw. Gemeinschaft übergreifenden Charakter des Kirchenkreises deutlich machen soll, knüpft an eine Formulierung in der Grundordnung der EKBO (Artikel 39 Absatz 4) an. Sie nimmt außerdem auf Äußerungen bei der Auswertungstagung in Loccum Bezug, in denen der Kirchenkreis als erste erfahrbare Gestalt der Gesamtkirche bezeichnet und als die erste Ebene beschrieben wurde, auf der die Katholizität, also die Allgemeinheit der Kirche (vgl. Satz 2 der Präambel) sichtbar wird.

Absatz 2 betont zunächst die Beratungs- und Unterstützungsfunktionen des Kirchenkreises gegenüber den Kirchengemeinden und deren regionaler Zusammenarbeit und grenzt sich damit ähnlich wie die Rahmenbestimmung des Artikels 15 deutlich von dem hierarchischen, einseitig von der übergeordneten Handlungsebene her gedachten und vom Gedanken der Aufsicht geprägten Verständnis der bisherigen Verfassung ab. Satz 2 verstärkt diesen Ansatz, indem er – erstmals im Verfassungsrecht der Landeskirche – das Subsidiaritätsprinzip als objektivrechtlichen Verfassungsgrundsatz formuliert: Der Kirchenkreis nimmt diejenigen Aufgaben wahr, die wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkung von den einzelnen Kirchengemeinden oder im Rahmen ihrer regionalen Zusammenarbeit nicht hinreichend erfüllt und daher besser in der Gemeinschaft des Kirchenkreises wahrgenommen werden können. Die gegenüber dem ersten Entwurf veränderte Formulierung knüpft an die Verfassung der EKM (Artikel 35 Absatz 2) an. Sie nimmt Stimmen auf, die im Stellungnahmeverfahren und bei der Auswertungstagung dafür plädiert hatten, das Subsidiaritätsprinzip positiv zu umschreiben. In gleicher Weise wird auch in dem Artikel über den Auftrag der Landeskirche (Artikel 43 Absatz 3) das Subsidiaritätsprinzip jetzt positiv umschrieben.

Absatz 3 enthält in einer gegenüber dem ersten Entwurf redaktionell leicht veränderten Fassung die wichtigsten Regelungen über die Funktion des Kirchenkreises als Ausgleichs- und Solidaritätsverbund der Kirchengemeinden und als Steuerungsebene für deren Haushaltsführung und Vermögensverwaltung. Die näheren Regelungen zur Ausgestaltung dieser Funktionen sind insbesondere im Finanzausgleichsgesetz der Landeskirche enthalten.

Absatz 4 verweist auf die Leitungsfunktionen des Kirchenkreises, die in Artikel 15 näher entfaltet werden, also insbesondere auf die Visitation und auf die Aufsicht.

Absatz 5 (bisher Absatz 3) beschreibt die Mittlerfunktion des Kirchenkreises zwischen der Ebene der Kirchengemeinden und der Landeskirche. Die Formulierung soll klarstellen, dass der Kirchenkreis einerseits Anliegen der Kirchengemeinden in seinem Bereich an die Landeskirche heranträgt, dass es aber andererseits auch zu seinen Aufgaben gehört, Informationen der Landeskirche weiterzugeben und für Anliegen der Landeskirche gegenüber den Kirchengemeinden einzutreten.

Aus der Synodalgruppe „Gruppe Offene Kirche“ wurde nachgefragt, ob die Aussage in Absatz 1 Satz 3 nicht präzisiert werden müsse, da „Erfahrungen von größerer Gemeinschaft und Vielfalt kirchlichen Lebens“ nicht nur auf der Ebene des Kirchenkreises, sondern auch auf der Ebene der Kirchengemeinde gemacht werden könnten. Der Verfassungsausschuss teilt die Auffassung, dass solche Erfahrungen auch auf Kirchengemeindeebene möglich sind. Die Beschreibung in Absatz 1 Satz 3 zielt aber auf einen anderen Sachverhalt: Der Kirchenkreis fußt auf der Gemeinschaft aller Kirchengemeinden in seinem Bereich mit ihren unterschiedlichen Profilen und Merkmalen. Da der Kirchenkreis somit konzeptionell und strukturell gemeindeübergreifend ausgerichtet ist, ermöglicht er grundsätzlich Erfahrungen von größerer Gemeinschaft und Vielfalt kirchlichen Lebens, die über die Erfahrungen der einzelnen Kirchengemeinde hinausgehen. Der Verfassungsausschuss schlägt deshalb vor, die Formulierung in Absatz 1 Satz 3 nicht zu ändern.