Artikel 78 | Kirchlicher Rechtschutz

(1) 1Wird eine Person durch die Entscheidung einer kirchlichen Körperschaft in ihren Rechten verletzt, so kann sie eine Überprüfung verlangen. 2Das Nähere wird durch Kirchengesetz geregelt.

(2) In Verfassungs- und Verwaltungsstreitigkeiten sowie in Disziplinarangelegenheiten, mitarbeitervertretungsrechtlichen Streitigkeiten und in sonstigen durch Kirchengesetz bestimmten Fällen steht der Rechtsweg zu den zuständigen kirchlichen Gerichten offen.

Begründung zu Artikel 78

Diese gegenüber dem ersten Entwurf neu eingefügte Grundsatzbestimmung geht insbesondere auf die Diskussionen bei der Loccumer Auswertungstagung zurück. Vor allem im Zusammenhang mit den Diskussionen über die Organisationshoheit des Landeskirchenamtes für Entscheidungen über den Bestand von Kirchengemeinden und Kirchenkreisen wurde der Wunsch laut, in der neuen Verfassung ähnlich wie in Artikel 127 Absatz 1 der Nordkirchen-Verfassung eine kirchliche Rechtsschutzgarantie vorzusehen.

In den weiteren Beratungen des Verfassungsausschusses und im Gespräch mit den Richterinnen und Richtern des Rechtshofs der Konföderation und der anderen kirchlichen Gerichte im Bereich der EKD wurde deutlich, dass eine kirchliche Rechtsschutzgarantie nicht in Parallele zu der allgemeinen Rechtsweggarantie formuliert werden kann, wie sie in Artikel 19 Absatz 4 GG enthalten ist. Das kirchliche Recht kennt eine Vielzahl von Entscheidungen, die entweder Ergebnis eines nach demokratischen Grundsätzen gestalteten Willensbildungsprozesses sind oder im Rahmen einer seelsorglichen oder visitatorischen Verantwortung getroffen werden. In solchen Angelegenheiten (z. B. Amtshandlungen oder die Wiederaufnahme Ausgetretener, die in die Verantwortung des Pfarramtes fällt), bei kirchlichen Wahlen, bei Visitationen und bei Lehrbeanstandungsverfahren ist der Rechtsweg im allgemeinen entweder ausdrücklich ausgeschlossen, oder es sind andere, nicht gerichtsförmige Rechtsbehelfe vorgesehen. In diesen Angelegenheiten einen Rechtsschutz durch kirchliche Gerichte vorzusehen, würde nicht nur die personellen Kapazitäten der kirchlichen Gerichtsbarkeit überfordern, sondern wäre vor allem dem Charakter dieser Angelegenheiten nicht angemessen. Nach Auskunft der Nordkirche werden diese Angelegenheiten auch dort nicht von der Rechtsweggarantie der Verfassung erfasst.

Über diese innerkirchlichen Erwägungen hinaus war aus staatskirchenrechtlicher Perspektive zu bedenken, dass eine umfassende innerkirchliche Rechtsweggarantie in Konkurrenz zur staatlichen Justizgewährleistungspflicht treten würde. Die Landeskirche hat in der Vergangenheit in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Rechtshofs stets die Auffassung vertreten, dass die Kirchen die Grenze der Zuständigkeiten zwischen der staatlichen und der kirchlichen Gerichtsbarkeit nicht von sich aus festlegen können, sondern dass sich der Rechtsschutz vor staatlichen Gerichten allein nach Maßgabe einer Abwägung zwischen dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht (Artikel 140 GG i.V.m. Artikel 137 Absatz 3 WRV) und der staatlichen Justizgewährleistungspflicht bestimmt. An dieser Position hält der Verfassungsausschuss fest.

Unter Berücksichtigung dieser Erwägungen hat der Verfassungsausschuss die in Artikel 78 beschriebenen Grundsätze des kirchlichen Rechtsschutzes entwickelt:

  • Absatz 1 gewährleistet, dass alle Entscheidungen kirchlicher Körperschaften einer Überprüfung zugeführt werden können. Diese ist im Einzelnen in den jeweiligen Fachgesetzen auszugestalten. Bei Amtshandlungen und anderen Entscheidungen, die in die Zuständigkeit des Pfarramtes fallen, gibt es die Möglichkeit der Beschwerde bei der Superintendentin oder dem Superintendenten und die Möglichkeit einer weiteren Beschwerde bei der Landessuperintendentin oder dem Landessuperintendenten. Entscheidungen im Rahmen einer Wahl zum Kirchenvorstand können durch den Kirchenkreisvorstand oder das Landeskirchenamt überprüft werden; die Wahlprüfung bei der Wahl der Landessynode obliegt dem Landessynodal-ausschuss. Bei kirchlichen Verwaltungsakten gibt es Widerspruchsverfahren sowohl bei Verfahren, für die der kirchliche Rechtsweg gegeben ist (§ 51 ReHO) als auch bei Streitigkeiten, für die der staatliche Rechtsweg gegeben ist (§ 79a ReHO). Ein Widerspruch ist allerdings nicht statthaft, wenn in besonderen Fällen wie z. B. bei dienstrechtlichen Entscheidungen des Landeskirchenamtes der Widerspruch ausgeschlossen und unmittelbar der Rechtsweg zum Rechtshof eröffnet ist.

Absatz 2 enthält eine Rechtsweggarantie, gewährleistet also die Überprüfung von Entscheidungen durch ein unabhängiges kirchliches Gericht. Diese Garantie beschränkt sich allerdings auf die Angelegenheiten, für die schon jetzt kirchliche Gerichte zuständig sind oder für die künftig möglicherweise aufgrund eines Kirchengesetzes kirchliche Gerichte errichtet werden.

In dem beschriebenen Rahmen enthält Artikel 78 eine grundrechtsähnliche Gewährleistung. Diese ist ausschließlich kirchenrechtlicher Natur, weil die Kirchen keine staatliche Gewalt ausüben und daher nicht an Artikel 19 Absatz 4 GG gebunden sind. Der Inhalt dieser Gewährleistung bestimmt sich nach den kirchlichen Gesetzen, die einen Rechtsbehelf nach Absatz 1 vorsehen oder einen Rechtsweg nach Absatz 2 eröffnen. Der kirchliche Gesetzgeber hat dabei den Auftrag, die Regelungen über Rechtsbehelfe und Rechtswege so auszugestalten, dass sich die verfassungsrechtliche Gewährleistung des Artikels 78 wirksam entfalten kann.